Was hat das Linden-Museum mit dem deutschen Kolonialismus zu tun? Welche württembergischen Akteur*innen waren am Kolonialismus beteiligt? Wie präsent war der Kolonialismus in der württembergischen Alltagswelt? Und wie wirkt er bis heute fort?
Die Ausstellung soll den Besuchern helfen, die komplexe Kolonialgeschichte Württembergs zu verstehen und ist ein großartiges Beispiel dafür, wie Museen dazu beitragen können, einen positiven Wandel in der Gesellschaft zu bewirken. Das Workshop-Format regt die Besucher dazu an, sich mit ihren eigenen Gedanken, ihrer Kritik oder ihrem Wissen über den Kolonialismus auseinanderzusetzen, was sie gegebenenfalls dazu veranlasst, auch außerhalb des Museums aktiv zu werden.
Die Sonderausstellung im Linden-Museum Stuttgart zum Thema Kolonialismus zeichnet durch ihren Werkstatt- und Workshopcharakter einen Gegenentwurf zum "Hochglanz" Kolonialismus. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Thema wird durch die verwendeten z. T. einfachen Materialien wie verzinkte Stahlregale, die nach oben scheinbar improvisiert verlängerten Regalholme sowie die Verwendung von Pappelholz unterstrichen. Der Werkstattcharakter der Ausstellung fördert die kritische Sichtweise und die ehrliche Selbstreflexion mit dem Thema.
In Wirklichkeit steckt auch hier die Raffinesse im Detail: Verdeckt verlegte Leitungen für indirekte LED-Beleuchtungsbänder in den Regalen, Vitrinenbau aus Acrylglas und maßgenauer Einbau von Grafikflächen in das Regalraster verleihen der Ausstellung einen wertigen Eindruck. Professionelle Qualität und aufwendiger Ausstellungsbau schwingt in jedem Detail der Präsentation mit. Wir befinden uns also doch nicht im Heimwerker- oder DIY-Keller. Abgerundet wird die Ausstellung mit einer durchgängig zweisprachigen Präsentation in Deutsch und Englisch.
Die Grafikflächen auf Dibondplatten, lackierten Tischlerplatten aus Pappelholz und der Direkt-Plattendruck auf Pappelholztischlerplatte wirken stimmig. Die kraftvollen Farben in Hintergründen und Beleuchtung vertreiben das Angestaubte und verleihen einen zeitgemäßen und modernen Charakter. Alleine schon die Beleuchtungseffekte zeugen von einem selbstbewussten Umgang mit dem Thema. Genau unser Thema: Raffinesse im Detail.
Besonderen Wert wurde auf die Verwendung emissionsarmer Materialien gelegt. Spezielle Anforderungen an zertifizierte Lacke und Materialien haben ihre Berechtigung im Ausstellungsbau und Museumsbau: Museumsvitrinen sollen Kunst- und Kulturgut nicht nur vor Diebstahl und Vandalismus, sondern auch vor Schmutz und Staub schützen. Zahlreiche Beispiele verdeutlichen jedoch eindringlich, dass Kunstwerke nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb von Museen, Archiven etc. zuweilen ungünstigen Umwelteinflüssen ausgesetzt sind. So können Einbauten bzw. Dekorationen in Ausstellungsräumen, Aufbewahrungsbehältnisse in Depoträumen oder Ausstellungsvitrinen flüchtige Substanzen freisetzen, die zu irreversiblen Veränderungen an den aufbewahrten oder ausgestellten Objekten führen und diese unter Umständen sogar schädigen. Hierzu zählen beispielsweise organische Säuren wie Ameisen- oder Essigsäure, aber auch Verbindungen, die Sulfide oder Formaldehyde enthalten. Als Reaktion darauf werden von Museen und Archiven bei der Neukonzeption von Ausstellungen immer häufiger sogenannte Schadstoff- bzw. emissionsfreie Vitrinen bzw. Konstruktions- und Baumaterialien gefordert.
Die folgenden Produktkategorien fließen in diese Kriterien/Prüfung mit ein:
Beschichtungen:
- Pulverlacke (Einbrennlacke)
- Flüssiglacke z. B. für die Beschichtung von Glas- oder Metallflächen
Dichtmaterialien:
- Fugendichtungsmassen (spritzfähige, plastisch verarbeitbare Dichtstoffe gemäß DIN EN 26 927 (Fugendichtstoffe): Produkte, die in Fugen eingebracht
werden und diese abdichten, indem das Material an den Fugenflanken haftet.) Unterteilt in:
- Silikondichtmassen
- Polymerklebstoffe
- Dichtprofile (fertigkonfektionierte Dichtbänder z. B. aus Silikon oder Kautschuk, die üblicherweise als Meterware gehandelt werden; mit und ohne
selbstklebende Rückseiten)
- UV Klebstoffe (Reaktionsklebstoffe) / Acrylharze
Kunststoffe:
- Plattenförmige Kunststoffe (z. Rückwände, Regalflächen, Acrylgläser etc.)
- Kunststoff-Formteile
Textilien:
- Bespannungsstoffe für Vitrineneinbauten
Sonstiges:
- z. B. Alu-Kompositplatten, Karton-Schaum-Kompositplatten u.a.
Holz- und Holzwerkstoffe können auch getestet werden. Diese Produkte können jedoch eine hohe Inhomogenität aufweisen. Normale Holzwerkstoffe enthalten häufig Carbonsäuren und Formaldehyd. Ein Einsatz unter emissionsarmen Kriterien für den Museumsbereich ist daher nur nach gründlicher Prüfung möglich.
Die Ausstellung vermittelt einen anderen Blick auf die koloniale Vergangenheit, indem sie diese im Kontext mit anderen Gesellschafts- und Lebensbereichen betrachtet. In einem interaktiven Prozess erfährt der Besucher die tatsächlichen und potenziellen kolonialen Aspekte der württembergischen Landesgeschichte anhand von Texten, Objekten, Kontexten und Forschungen.
Die Ausstellung behandelt historische Fragestellungen auf lokaler Ebene, geht aber am Beispiel Württembergs auch übergreifende Themen an: Was verstehen wir heute unter "Kolonialismus"? Wie können wir mit der kolonialen Vergangenheit auf verantwortungsvolle Weise? Wie können wir die Geschichte bewahren und gleichzeitig in die Zukunft blicken?
Die Ausstellung zeichnet die kolonialen Verbindungen des Museums zwischen 1882, dem Gründungsjahr des Württembergischen Vereins für Handelsgeographie als Träger des Museums und etwa 1940 nach und spannt einen Bogen bis in die Gegenwart. Karl Graf von Linden spielte dabei eine wichtige Rolle. Er war Vorsitzender des Trägervereins und prägte das Museum während der Kolonialzeit. Entsprechend wurde das Linden-Museum 1911 nach ihm benannt. Darüber hinaus werden weitere Persönlichkeiten vorgestellt, die Teil der Geschichten waren, die sich zwischen dem Linden-Museum, Württemberg und den Kolonien abspielten. Ebenso fragen wir nach denen, über die wir wenig wissen, die durch die kolonialen Verhältnisse bedingt waren, aber dennoch maßgeblich an der Entwicklung der Sammlungen beteiligt waren.
In einem weiteren Schritt werden die Vereine des Kolonialismus betrachtet - Trägervereine und ihre Nachfolger, Vereine prägten das gesellschaftliche Leben und dienten als Multiplikatoren der kolonialen Ideologien. Veranstaltungen wie Kolonialkonferenzen, Ausstellungen und sogenannte "Völkerschauen" oder Objekte der Alltagskultur zeigen, wie tief der Kolonialismus auch in Stuttgart verwurzelt war. Es wird die Frage gestellt, welche Kontinuitäten sich bis heute ergeben.
Ein weiterer thematischer Schwerpunkt beschäftigt sich mit Gewalt und stellt exemplarisch den sogenannten "Boxerkrieg" in China (1900/01) in den Mittelpunkt. Hunderte der Württemberger meldeten sich freiwillig zu diesem Krieg, aus dem das Linden-Museum Beuteobjekte besitzt. Württemberger, die an kolonialen Expeditionen und Kriegen teilnahmen, wurden mit Gedenktafeln und Denkmälern geehrt, von denen einige noch heute existieren. Wie sollte damit umgegangen werden?
In die Ausstellung fließt die Provenienzforschung im Museum ein. Außerdem wurde vom Linden-Museum eigens eine Untersuchung zu Württemberg und dem Kolonialismus in Auftrag gegeben. Die Landesgeschichte im Kontext des Kolonialismus zu betrachten und die vielen Querverbindungen zwischen Institutionen, Personen und Ereignissen herauszuarbeiten, ist ein neuer Ansatz. Auch wenn manche Fragen schon früher bearbeitet wurden, setzt die wissenschaftliche Forschung und Debatte bei vielen Fragen gerade erst ein.
Zentral sind dabei kritische Distanz und Multiperspektivität, um Kolonialgeschichte nicht einseitig oder gar nostalgisch aus der Sicht württembergischer Akteure nachzuerzählen. Dass die Auseinandersetzung stark in Bewegung ist, wird auch in der Ausstellung sichtbar. Angelehnt an die Idee der Werkstatt sind die Besucher*innen aufgefordert, Fragen zu beantworten, eigene Gedanken oder Kritik festzuhalten und ihr Wissen einzubringen oder zu hinterfragen. Die Besucher*innen können verschiedene Standpunkte und Perspektiven einnehmen, Leerstellen und Verbindungslinien werden offen gelegt und die Inhalte zur Diskussion gestellt.
Linden-Museum und Württemberg im Kolonialismus -
Eine Werkstattausstellung, Stuttgart
Metallregale, verzinkt
LED-Beleuchtungsbänder
Acrylglas-Vitrinen
Dibondplatten
lackierte Tischlerplatten aus Pappelholz
Direkt-Plattendruck auf Pappelholztischlerplatte
2x Goldstein, Rheinstetten
https://2xgoldstein.de/
Joshua Kaiss
Dominik Drasdow, Linden-Museum Stuttgart
September 2020 - November 2020
Diese Ausstellung folgt anderen ähnlichen Projekten, die versucht haben, soziale Ungerechtigkeit durch Kunst zu thematisieren, wie z. B. "The Darker Side" in der York University Art Gallery (Kanada) und "Shadeism" im Louisiana Museum for Moderne Kunst (Dänemark).
Wenn Sie mehr über dieses Projekt erfahren möchten, lesen Sie unseren Blog-Artikel hier: https://www.lindenmuseum.de/sehen/ausstellungen/schwieriges-erbe